Impuls zum 23. Sonntag im Jahreskreis

„Welcher Mensch kann Gottes Plan erkennen oder begreift, was der Herr will? Unsicher sind die Überlegungen der Sterblichen und einfältig unsere Gedanken; denn ein vergänglicher Leib beschwert die Seele und das irdische Zelt belastet den um vieles besorgten Verstand.“

Kennen Sie das Buch der Weisheit? Die erste Lesung dieses Sonntages ist daraus entnommen. Dieses Buch reiht sich ein in die Weisheitsliteratur der Bibel, zu dem auch die Psalmen, Sprichwörter oder das Buch Ijob (Hiob) gehören. Es ist über einen längeren Zeitraum entstanden und wohl eines der jüngsten Bücher im Alten Testament. Das Buch der Weisheit beinhaltet nicht nur Mahnungen zum weisen Leben und Aufrufe zum Suchen Gottes im Leben. Gerade der heutige Text stellt das Wissen und die Weisheit als solche für den sterblichen Menschen infrage: Sind wir irdischen Wesen überhaupt in der Lage, Gottes Ruf und Plan zu erkennen und zu folgen? Dabei ist das doch ein wiederkehrendes Thema in Predigten unserer Zeit: Wir sollen Gott erkennen, wir sollen unsere Leben nach seinem Plan ausrichten, wir sollen Gottes Plan mit unserem ganzen Leben folgen.

Ich finde, der heutige Text erdet diese Forderungen und macht uns alle zu gleichermaßen suchenden Menschen. Er ordnet unser Glaubenswissen als gering ein, ohne Gott und seine Offenbarung an sich in Frage zu stellen. So bewahrt er auch davor, vorschnell den Glauben und die Lebensform anderer Menschen zu verurteilen. Immer wieder höre ich in Diskussionen in der Gemeinde oder in anderen kirchlichen Kreisen Argumente, man wisse ja genau, was Gottes Plan sei. Hier und da wird dann argumentiert, etwas (z.B. eine bestimmte Lebenseinstellung) widerspreche dem Plan Gottes. Das setzt eine selbstbewusste Haltung voraus, wir Christenmenschen wüssten ja genau, was Gott will. Die anderen hingegen müssten ihre Lebens- und Glaubenshaltung aufgeben und sich der eigenen Haltung hingeben.

Das Buch der Weisheit jedoch fragt genau dies an: „Welcher Mensch kann Gottes Plan erkennen?“ All unsere Überlegungen seien „unsicher“, unsere Gedanken „einfältig“. Für mich ist die Weisheitsliteratur des Alten Testaments eine Hilfe, nicht vorschnell mit scheinbaren Erkenntnissen zu argumentieren, sondern sich der eigenen Begrenztheit und Vergänglichkeit bewusst zu werden. Ja, wir können durch die Offenbarung Gottes, besonders in Jesus Christus, eine Ahnung davon bekommen, wie und wozu Gott das Leben geschaffen hat. Doch in allem Irdischen bleiben wir Menschen Suchende – und das ist aus meiner Sicht eine sehr fruchtbare Perspektive des Textes: Sich gemeinsam mit anderen Menschen auf die Suche begeben zu können nach Gottes Plan. So erdet uns die Begrenztheit des Lebens und wir können anderen Menschen wirklich auf Augenhöhe begegnen.

In dieser Haltung bekommt die frohe Botschaft eine Glaubwürdigkeit: Nicht etwa, indem all das christliche Glaubenswissen verleugnet und das Evangelium verwässert würde, sondern, indem wir uns unserer eigenen Begrenztheit im irdischen Leben wie im Wissen über Gott bewusst werden und uns damit nicht über andere Menschen erheben. Ich träume von einer Kirche als Gemeinschaft von Suchenden, die von gegenseitigem Interesse und echter Begegnung geprägt ist. Helfen kann dabei eine Weisheit unserer Zeit, die Frère Roger Schutz vor wenigen Jahrzehnten formulierte: „Lebe das, was Du vom Evangelium verstanden hast. Sei es noch so wenig. Aber lebe es.“ So wird die Kirche zu einer Ansammlung von Menschen mit unterschiedlichen Gotteserfahrungen, die in ihrer Gesamtheit ein vielseitiges Mosaik ergeben. Ein Mosaik, das von Gottes wunderbarem Handeln erzählt. Ein Mosaik, das staunen lässt über Gottes großes Werk. Ein Mosaik, das nur in seiner Gesamtheit beeindruckt und Jesu Anspruch gerecht wird: „Alle sollen eins sein, damit die Welt glaubt.“ (Joh 17,21).
 
Ihr Jonas Borgwardt

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