
„Herr, lehre uns beten!“ (Lk 11,1): Dieser Wunsch eines Jüngers steht gleich am Anfang des Sonntagsevangeliums. Als Antwort auf diesen Wunsch gibt Jesus ihm und den anderen einen konkreten Text, den wir heute in längerer Form als Vaterunser kennen.
Der Fokus heute soll sich aber nicht so sehr auf den Text des Vaterunsers richten, sondern auf diesen Wunsch des Jüngers. Vor allem finde ich es spannend, dass diese Bitte erst im 11. Kapitel des Lukasevangeliums kommt, also zu einem Zeitpunkt, in dem die Jünger Jesu schon eine Weile mit ihm unterwegs sind (nämlich seit dem 5. Kapitel) und verschiedene Heilungen, Gleichnisse und Jesusworte gehört hatten. Auch seine Seligpreisungen und die Aufforderung zum barmherzigen Handeln gehen dieser Szene voraus. Jesus predigt, und vor allem: Jesus handelt. Auch die Aussendung der zwölf und der 72 Jünger und selbst das erste Bekenntnis des Petrus („Du bist der Christus Gottes“) stehen vor dieser doch eigentlich so wichtigen Frage. Welche Impulse liegen in dieser Beobachtung für unsere Gegenwart?
Für mich macht dieser Zusammenhang vor allem deutlich: Die Beziehung zu Gott beginnt nicht in meinem Beten, sondern in Gottes Zuwendung zu mir. Denn Jesus ist es, der sich Menschen zuwendet und in Begegnung mit ihnen tritt, der konkret und heilsam an ihnen handelt und der sie schließlich lehrt – und sie antworten ihm im Mitgehen, im Sich-Senden-Lassen, im Zuhören und: im Gebet. Wenn es heute darum geht, Menschen den christlichen Glauben nahezubringen, dann geht es dementsprechend zuerst darum, sich ihnen in ihrem Sein zuzuwenden und in Begegnung zu kommen. In einem nächsten Schritt geht es dann darum, konkret und heilsam an ihnen zu handeln, bevor es um die Inhalte, um die Lehre des Glaubens geht. Und erst dann ist der Zeitpunkt gekommen, in Gebet und Gottesdienst zu finden.
Ich halte die Erzählweise bei Lukas für unsere Sendung heute hilfreich, denn sie macht deutlich: Es nützt nichts, einfach Menschen zum Gottesdienst einzuladen oder ihnen einfach eine Lehre hinzuhalten, wenn es nicht eine konkrete Erfahrung von Begegnung und heilsamen Handeln gibt. Wie soll das Gebet eine Tiefe entfalten, wie soll eine Lehre mit dem Herzen angenommen werden, wenn ich nicht selbst erfahren habe, wie Gott an mir handelt? Die Nachfolge Jesu kann mit dieser lukanischen Reihenfolge konkret und für unsere Zeit bedeutsam werden. Sie bewahrt vor einem plakativen Aktionismus und allzu oberflächlicher Frömmigkeit, die nur äußerlichen Kriterien genügt, aber keine Verwurzelung im Innern kennt. Dabei ist doch Glaube in vielen Sprachen – auch im Griechischen und im Lateinischen – synonym mit Vertrauen, welches ohne Annahme im Inneren gar nicht funktionieren kann.
Herr, lehre uns beten: Darin steckt für mich auch ein Eingeständnis, dass es ohne das Zutun Gottes nicht geht. Es ist kein Drama, wenn man Jesus bereits mit dem ganzen Leben nachfolgt, wie dieser Jünger in Lk 11, und doch nicht weiß, wie das mit dem Beten so richtig gehen soll. Vielleicht ist es auch beruhigend, dass auch ich mich in der Nachfolge Jesu hin und wieder an Gott wenden darf und ihn in meinem Gebet um Hilfe bitten darf. Das Vaterunser ist darin ein konkreter Text, der mir in meinem Beten als Orientierung und Stütze bieten darf.
Einen gesegneten Sonntag wünscht Ihnen
Ihr Jonas Borgwardt